Die Luft ist schwül, es hat 28 Grad, die Sicht ist klar. Ich, John Hopper, bin Ausbilder bei den US-Marines Scharfschützen, zusammen mit Staff Sergeant Krasinski. Unserem Kommando unterliegen zehn Mann, bestehend aus frischen US-Marines Lance Corporals. Die ersten zwei Wochen ihrer zwölfeinhalbwöchigen Scharfschützenausbildung haben ihnen jede Illusion vom kalifornischen Traum genommen. Unsere Scouts hatten sich mehr Spaß erhofft im Sunshine State. Das tun sie alle, bevor sie die Marine Corps Base Camp Pendleton in Kalifornien erreichen.
„Seid gut zu euren Ladys! Seid ihr es nicht, kann es euch das Leben kosten!“ Und mit Ladys meine ich ihre M40A5 Präzisionsgewehre. „Ja, Sir!“, antworten meine zehn Lance Corporals im Chor. Zufrieden nickt mir Staff Sergeant Krasinski zu.
Fünf der Scouts liegen auf dem roten, staubigen Boden, die anderen fünf stehen je hinter einem von ihnen und sehen durch ihre Feldstecher. Der Staub in ihren Gesichtern hat, gemischt mit ihrem Schweiß, eine Kruste um Augen und Nase gebildet. Ich selbst bin klitschnass geschwitzt unter meiner Uniform. Wir stinken wie eine Herde Moschusbüffel. Ihre müden Gesichter sprechen Bände.
Seit Stunden trainieren wir den missionsentscheidenden Dialog zwischen Schützen und Spotter. Die Prozedur ist immer die gleiche. Der Spotter gibt dem Schützen Informationen durch, in welchem Sektor sich das Ziel befindet. Die Sektoren bestehen aus horizontalen und vertikal festgelegten Markierungen auf dem Übungsplatz, zu erkennen an Zahlen und Buchstaben auf Schildern. Bei Beendigung der Ausbildung können die Scouts Distanzen selbst einschätzen.
„Der Schütze schießt, der Spotter trifft.“ Ich habe diesen Satz heute schon mindestens ein Dutzend Mal gesagt. Es ist wichtig, dass die jungen Soldaten lernen, als Zweier-Team nahtlos zu agieren. Im Normalfall sind sie im Einsatz völlig auf sich gestellt und müssen im Alleingang Entscheidungen treffen, Informationen sammeln und auswerten.
„Spotter bereit.“ Der junge Mann hinter dem Fernglas gibt dem am Boden liegenden Schützen seine Bereitschaft an.
„Schütze bereit.“ Sein Kamerad bestätigt ihm die seine. „Laden und entsichern!“ Das Geräusch, wie die Soldaten mit einem Handgriff die Patronen in ihr Repetiergewehr laden und entladen, ist mir so vertraut wie dem Priester das Amen in der Kirche. Ein Schuss folgt.
„Cruz, das, was du da in deinen Händen hältst, ist keine HK416.“ Ich trete dem jungen Scout gegen seinen Stiefel. Der dazugehörige Späher wischt sich mit einem Halstuch den Schweiß aus dem Gesicht und sieht mich mit müden Augen an. „Ja! Sir!“ Cruz antwortet mir lautstark, legt seine M40A5 zur Seite, schüttelt die Hände aus und kreist den Kopf im Nacken. Dann positioniert er das Gewehr erneut, stellt die Wangenauflage nach und legt sich wieder in Stellung.
Krasinski und ich gehen hinter den Scouts auf und ab und kontrollieren Haltung, Vokabular und Treffsicherheit. Doch ich bin nicht bei der Sache. Ich kann es kaum erwarten, zurück in die Kaserne zu fahren, um dann Staff Sergeant Jessup ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen. Wieder ertönt ein Schuss.
Einer meiner Scouts wird dabei von einem derben Rückschlag aus der Position gebracht, das Stativ seines Gewehrs hebt ab und setzt kurz darauf mit einem blechernen Kratzen auf dem sandigen Boden wieder auf. „Evans! Hand an die Schulter! Waffe stabilisieren.“ Ich knie mich zu Lance Corporal Evans und zeige dem jungen Soldaten, wie er mit der linken Hand den Gewehrkolben an seine Schulter hält, um den Rückstoß nach Schussabgabe besser abfangen zu können. Wenn der Kolben ausreißt, weil ihn der Scout nicht korrekt hält, führt das gelegentlich zu Platzwunden über dem Auge oder zu Schulterprellungen. Zudem kann die Angst vor dem Rückstoß die Treffsicherheit beeinflussen und die Mission zum Scheitern bringen.
„Ja! Sir!“, krächzt der junge Lance Corporal, räuspert sich und gibt mir dann klar und deutlich eine Antwort. „Ja! Staff Sergeant Hopper!“
Ich klopfe Evans auf die Schulter, richte mich auf und stelle mich neben Krasinski. Er steht breitbeinig da und checkt mit einem Fernglas die Treffer auf den schwarzen Zielscheiben. Ohne seinen Blick durch das Fernglas abzuwenden, flüstert er mir zu: „Hopper, ich habe gehört, heute Abend wird getanzt.“ „Das hast du also gehört?“ Ich sehe auf den Boden und kicke einen roten Stein zur Seite. „Du und Jessup.“ Krasinski wird konkret. „Alles, woran ich denke, ist, Jessup heute Abend die Fresse zu polieren,“ flüstere ich mit zusammengebissenen Zähnen zurück und beobachte weiter die schwitzenden Scouts im Sand. In mir kocht eine Scheißwut. Ich sehe auf meine Uhr – noch eine Stunde und dreiundvierzig Minuten, dann wird ihn meine Faust direkt zwischen die Augen treffen.
Krasinski hat meinen Blick auf die Uhr bemerkt und schüttelt in Zeitlupe seinen Kopf, nickt auf die jungen Soldaten, tippt sich mit dem Zeigefinger an sein Ohr und zeigt dann damit auf die Scouts. Ich soll mich konzentrieren.
„Es laufen bereits Wetten. Staff Sergeant Mills macht den Buchhalter. Er sagt, die Quote spricht nicht für dich.“ „Mills kann mich mal. Ich werde Jessup den Arsch aufreißen und ihm seine irisch-stämmige, bleiche Visage hineinstecken, damit ihm sein beschissenes Lachen ein für alle Mal vergeht. Vorher schlage ich ihm noch seinen Goldzahn aus.“ Unsere Schüler haben aufgehört, sich auf das Übungsfeld zu konzentrieren, sie verfolgen lieber die Unterhaltung zwischen mir und Krasinski.
„Cruz! Augen ans Zielfernrohr!“ Krasinski brüllt den Scout mahnend an. „Ja! Sir!“, antwortet Cruz. Die anderen neun Soldaten widmen sich in Windeseile, auffällig engagiert, wieder ihren Gewehren und Ferngläsern und richten ihren Blick auf den Schießplatz. Natürlich wissen auch sie schon von dem illegal geplanten Boxkampf zwischen Jessup und mir.
Die Information hat sich ausgebreitet wie ein Flächenbrand. Staff Sergeant Mills hat mir heute Morgen, anstatt zu salutieren, auf den Oberarm geklopft. Ich wette, er hat das bei Jessup auch gemacht. Dabei hat er mich wie ein hinterlistiges Wiesel angeschaut und mit seiner nasalen Stimme „Quoten-Check, Hopper!“, geraunt.
„Krasinski, sorg dafür, dass alle Jungs ihre Handys abgeben. Ich will nicht, dass irgendjemand den Kampf aufnimmt. Hörst du?“
„Leibesvisite?“ Krasinski sieht mich schräg von der Seite an, bevor er sich hinter Lance Corporal MacNally stellt und mit seinem Fernglas in der Hand den Treffer seines Schützen, Lance Corporal Adams, prüft.
„Veeer-daaaa-mmt, Adams! Das waren 800 Meter, weiter so! Gute Arbeit, MacNally!“ Kein Treffer ohne Spotter, sagt man. Teamwork ist das A und O bei uns US-Marines Scharfschützen. MacNally und Adams geben sich ein High-Five.
„Kein Grund, eine Party zu feiern, Lance Corporals! Weiter machen! Augen nach vorne!“, belle ich die Scouts an.
„Ja! Sir!“, antworten mir beide gleichzeitig. Sichtlich stolz und frisch motiviert beginnen sie die Prozedur des Dialogs von Neuem.
Krasinski stellt sich wieder neben mich. „Hopper, ich hab 100 Dollar auf dich gesetzt. Mach ihn fertig, diesen bleichen Iren.“
Pete Krasinski ist einer meiner engsten Vertrauten. Wir sind zusammen durch die Grundausbildung und haben als Infanteristen im gleichen Trupp zwölf Monate in Afghanistan gedient. Danach waren wir zeitgleich auf der Scharfschützenschule des United States Marine Corps Recruit Depot in San Diego. Beide sind wir weitere zwölf Monate zurück nach Afghanistan, diesmal in verschiedenen Truppen, aber im gleichen Platoon. Unsere Wege haben sich immer wieder gekreuzt. Heute fühlen wir uns so verbunden, als wären wir Brüder.
Ich werfe wieder einen Blick auf meine Uhr. Noch eine Stunde und zweiunddreißig Minuten. Krasinski nickt mir zu. „Achtung! Gewehre entladen und sichern!“ Ich rufe die ersehnten Worte, und die Anspannung meiner Schützen lässt sichtlich nach. Ich nehme meine Baseballkappe ab und wische mir den Schweiß in den Haaransatz. „Ja! Sir!“, antworten sie wie aus einem Mund und machen sich daran, den Schießplatz aufzuräumen. Als sie fertig sind, stellen sie sich in einer Reihe vor mich und Krasinski, ich setze meine Kappe wieder auf.
„Was hebt uns ab von anderen Streitkräften?“ Ich stehe nun auf Augenhöhe vor meinen Scouts und schreie sie in ihre staubigen Gesichter an. „
Es ist der Kampfgeist, der in uns steckt, der uns dazu antreibt, nichts anderes als den Sieg anzustreben! Sir!“ Sie stehen stramm und antworten in einem Chor.
„Was noch?“, brüllt Krasinski heute besonders lautstark und läuft dunkelrot im Gesicht an.
„Der Wille zu gewinnen! Der Eifer zu kämpfen! Sir!“ Die Scouts salutieren vor uns. Wir nicken ihnen zu.
„Wegtreten!“ ,gibt Krasinski als Antwort. Die Scouts antworten ein letztes Mal mit dem US-Marines-Kampfruf: „Oorah!“
Während die jungen Scouts zu den Fahrzeugen abmarschieren, schaut mich mein Freund und Kamerad eindringlich an.
„Hopper! Der Wille zu gewinnen, der Eifer zu kämpfen. Mach ihn alle.“ Ich antworte nur mit einem lauten „Oorah!“ und schlage mir wie ein Gorilla auf die Brust.
Cruz, Evans und MacNally drehen sich noch mal um, nicken mir zu und heben die rechte Faust nach oben. Auch sie werden heute Abend bei dem Kampf anwesend sein, ich wette, MacNally hat auf Jessup gesetzt. Euch werde ich’s zeigen, ihr Bleichgesichter.